Mit der neuesten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom Juni 2024 haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlicher Verordnungen massiv verändert – und leider nicht zugunsten der Ärzte. Was bedeutet das für Sie als niedergelassener Arzt oder Ärztin? Welche Risiken ergeben sich, und wie können Sie sich gegen potenzielle Regressforderungen schützen?
Die Ausgangslage: Das Ende der Differenzkostenregelung
Bis vor kurzem gab es eine für Ärzte wichtige Entlastung bei Regressverfahren: Im Falle einer unwirtschaftlichen Verordnung sollten Ärzte nur die Differenz zwischen der teuren und der wirtschaftlichen Alternative zurückzahlen müssen. Diese Regelung, auf die sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im Rahmen des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) 2020 verständigt hatten, galt als wichtiger Schutzmechanismus für niedergelassene Ärzte. Doch das BSG hat nun endgültig entschieden, dass diese Differenzmethode bei unzulässigen Verordnungen nicht mehr zur Anwendung kommt. Ärztinnen und Ärzte haften somit bei solchen Verordnungen vollumfänglich – und das Risiko eines hohen Regresses steigt beträchtlich.
Was ist konkret passiert?
Der Streitpunkt drehte sich vor allem um die Frage, ob bei unzulässigen Verordnungen (z. B. bei Off-Label-Use oder bei der Verordnung von Medikamenten, die durch die Arzneimittelrichtlinie eingeschränkt oder ausgeschlossen sind) die Differenz zwischen der unwirtschaftlichen und der wirtschaftlichen Verordnung als Berechnungsgrundlage verwendet werden kann. Die Antwort des Gerichts war eindeutig: Nein. Diese Regelung gilt nur bei unwirtschaftlichen Verordnungen, nicht jedoch bei unzulässigen.
Das klingt kompliziert? Ist es auch. Aber die praktische Konsequenz ist klar: Jede Verordnung, die nicht den strengen Kriterien der Arzneimittelrichtlinie entspricht, kann zu einem kompletten Regress führen. Diese Entscheidung trifft besonders Ärztinnen und Ärzte hart, die aufgrund von komplexen Patientensituationen, wie etwa bei multimorbiden älteren Menschen, auf eine individuelle Verordnung angewiesen sind. Hier entstehen schnell Situationen, in denen Medikamente außerhalb der Standardvorgaben verordnet werden müssen, um den bestmöglichen Behandlungserfolg zu erzielen – eine klassische Zwickmühle.
Wo lauern die Fallstricke?
Ein anschauliches Beispiel für diese Problematik ist die Verordnung von Protonenpumpenhemmern (PPI) in Kombination mit Schmerzmitteln (NSAR). Diese Kombination ist laut Arzneimittelrichtlinie nur bei Patienten mit hohem gastroduodenalem Risiko erlaubt, die eine Dauertherapie benötigen. Was aber, wenn Sie einem Patienten mit koronarer Herzkrankheit, der dauerhaft mit Acetylsalicylsäure (ASS) behandelt wird, ebenfalls einen PPI verordnen, um Magen-Darm-Probleme zu verhindern? Genau hier lauert die Gefahr: Diese Kombination ist in der Arzneimittelrichtlinie nicht explizit erwähnt und könnte somit zu einem Regress führen. Solche „Graubereiche“ machen es für Ärztinnen und Ärzte zunehmend schwer, die Wirtschaftlichkeits- und Zulässigkeitskriterien im Detail zu überblicken.
Ein weiteres Problemfeld sind Insulinanaloga bei der Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2. Zwar ist ihre Verordnung grundsätzlich erlaubt, doch müssen sie preislich mit Humaninsulin konkurrieren. Sobald die Kosten höher sind und keine medizinisch eindeutigen Gründe für die Verordnung vorliegen, droht auch hier ein Regress. Dies sind nur zwei Beispiele von vielen – und die Liste solcher potenziellen Problemfelder wird durch die Entscheidung des BSG länger und unübersichtlicher.
Warum jetzt besondere Vorsicht geboten ist
Die jüngste Niederlage der KBV vor dem BSG hat die Position der Krankenkassen gestärkt und den Schutz der Ärzte geschwächt. Besonders brisant ist dabei, dass die Krankenkassen nun deutlich mehr Spielraum haben, unzulässige Verordnungen rückwirkend mit Regressforderungen zu belegen. Und das nicht nur innerhalb der regulären Verjährungsfrist von zwei Jahren: Wenn die Kasse kurz vor Ablauf dieser Frist einen Antrag stellt, wird die Verjährung ausgesetzt – Ärzte sind also einem Regressrisiko ausgesetzt, das sich über viele Jahre erstrecken kann.
Eine weitere Verschärfung ergibt sich aus der Tatsache, dass selbst gut gemeinte Verordnungen bei multimorbiden Patienten zu einem Regress führen können, wenn sie nicht den Vorgaben der Richtlinien entsprechen. Das BSG hat die Auffassung vertreten, dass jede unzulässige Verordnung nicht nur unwirtschaftlich ist, sondern auch gegen die gesetzlichen Bestimmungen verstößt – mit den entsprechenden finanziellen Konsequenzen.
Wie können Sie sich schützen?
Ein Punkt ist klar: Die Kenntnis der geltenden Verordnungsrichtlinien ist wichtiger denn je. Es ist entscheidend, dass Sie sich als Arzt oder Ärztin regelmäßig über die aktuellen Vorgaben informieren, um sicherzustellen, dass Ihre Verordnungen nicht nur therapeutisch sinnvoll, sondern auch rechtlich abgesichert sind. Besonders bei „Grauzonen“ wie Off-Label-Use-Verordnungen oder Kombinationstherapien sollten Sie vorsichtig sein.
Aber was, wenn trotz aller Vorsicht doch ein Regress droht? Hier kann es helfen, sich bereits im Vorfeld abzusichern. Viele Ärzte setzen auf professionelle Beratung oder spezielle Schutzprogramme, die sie vor den finanziellen Risiken eines Regresses schützen. Diese bieten die Möglichkeit, sich umfassend abzusichern und im Fall eines Regressverfahrens nicht allein dazustehen.
Fazit: Prävention ist der Schlüssel
Die aktuelle Rechtslage stellt niedergelassene Ärzte vor erhebliche Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, proaktiv zu handeln und sich frühzeitig gegen mögliche Regressforderungen zu schützen. Achten Sie auf eine sorgfältige und wirtschaftliche Verordnungsweise, vermeiden Sie unzulässige Verordnungen, und sichern Sie sich gegen finanzielle Risiken ab. So behalten Sie Ihre therapeutische Freiheit – und schützen gleichzeitig Ihre Praxis vor unangenehmen Überraschungen.
In einer sich ständig verändernden Gesundheitslandschaft ist es entscheidend, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Ärzte, die sich frühzeitig absichern, werden weniger von den finanziellen Folgen unerwarteter Regressforderungen überrascht.